Der neuerliche Kreditbedarf Griechenlands hat die
europäische Staatsverschuldungskrise, die zuvor in der öffentlichen Wahrnehmung
als nahezu überwunden galt, wieder auf die politische Tagesordnung gesetzt.
Innerhalb Deutschlands spielt das Thema Staatsverschuldung derzeit eine geringe
Rolle, da alle staatlichen Ebenen in der Summe einen Überschuss erwirtschaften.
Zu kurz kommt dabei allerdings, dass auch einige Bundesländer und Kommunen eine
hohe Neuverschuldung aufweisen. Es stellt sich somit die Frage, wie ein
langfristig sinnvolles wirtschaftspolitisches Ziel, wie die Begrenzung der Staatsverschuldung,
politisch durchgesetzt werden kann.
Ordnungspolitik vs. Prozesspolitik
In der ökonomischen Theorie wird zwischen regelgebundener Ordnungspolitik
und Prozesspolitik unterschieden. Die Ordnungspolitik versucht, grundsätzliche Rahmenbedingungen
für das Wirtschaftsgeschehen zu schaffen, innerhalb derer die Wirtschaftsakteure
ihre eigenen Ziele verfolgen können. In das Marktergebnis wird nicht
eingegriffen, sofern die Marktteilnehmer nicht gegen die geltenden Regeln
verstoßen. Dazu wird der Handlungsspielraum der Träger der Wirtschaftspolitik eingeengt,
indem diese ihr Handeln auf die Setzung der Rahmenbedingungen beschränken.
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Odysseus - ein früher griechischer Ordnungspolitiker widersteht den Verlockungen der Sirenen durch kluge Selbstbindung Herbert James Draper (1863-1920): Odysseus und die Sirenen, 1909 |
Ein
großer Vorteil dieses Vorgehens liegt darin, dass langfristig
wohlfahrtssteigernde Ziele, wie z. B. eine Begrenzung der Staatsverschuldung oder
Preisniveaustabilität, durchgesetzt werden können. Andernfalls fallen solche
Ziele häufig kurzfristigen Interessen der Träger der Wirtschaftspolitik, etwa
der Befriedigung bestimmter Interessengruppen vor Wahlen, zum Opfer. Diese
Ausrichtung spielt in der wirtschaftspolitischen Debatte in Deutschland
traditionell eine große Rolle. Beispiele für solche Regeln sind die Schuldenbremse,
die Rentenformel und die Verlagerung der Geldpolitik auf eine, dem Ziel der
Preisniveaustabilität verpflichtete, unabhängige Zentralbank.
In der Prozesspolitik hingegen dienen wirtschaftspolitische Entscheidungen
insbesondere der Realisierung eines politisch gewünschten Marktergebnisses.
Eine Beschränkung des Handlungsspielraums der wirtschaftspolitischen Akteure –
insbesondere die Bindung zukünftiger Akteure – ist nicht vorgesehen. In vielen anderen
Eurostaaten wurden die Folgen der damit verbundenen stärkeren
Kurzfristorientierung der politischen Akteure (z. B. höhere Inflationsraten)
hingenommen.
Diese Ausrichtung spiegelt sich in diesen Staaten auch in
einem deutlich geringeren Einfluss der Verfassungsgerichtsbarkeit wider.
Während das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber regelmäßig Auflagen
erteilt und sogar ganze Gesetze für verfassungswidrig erklärt, wird eine
derartige Beschränkung des Handlungsspielraums des Gesetzgebers in vielen
anderen Eurostaaten als deutsche Eigenart angesehen.
Perspektivunterschiede zwischen den Eurostaaten
Das unterschiedliche Grundverständnis von Wirtschaftspolitik
lässt sich an der Entwicklung der Währungsunion verdeutlichen. Deutschland hat
der Einführung der Währungsunion nur nach der Verabschiedung strenger Regeln
(Nichtbeistandsklausel, Begrenzung der Staatsverschuldung, Verbot der monetären
Staatsfinanzierung) zugestimmt. Die damit verbundene Erwartung, die betroffenen
Akteure auf bestimmte Verhaltensweisen zu verpflichten, hat sich allerdings
nicht in allen Fällen erfüllt. Als im Mai 2010 erstmals eine harte Entscheidung
zwischen der kurzfristigen Verhinderung der Zahlungsunfähigkeit eines
Eurostaates und der als langfristig sinnvoll erkannten Regel der
Nichtbeistandsklausel anstand, setzte sich die Kurzfristorientierung durch.
Diesen Regelbruch nahm Deutschland zum Anlass, sich für neue
Regeln einzusetzen. Der installierte Rettungsschirm sollte nur dann Kredite an
Eurostaaten auszahlen, wenn sich die Empfängerstaaten im Gegenzug zu Strukturreformen
verpflichteten. Wiederum war damit die Erwartung verbunden, dass diese neuen
Regeln sowie eine politische Aufsicht die Akteure zu einer Verhaltensänderung
bewegen würden. Die betroffenen Krisenstaaten ließen sich darauf ein, da so ihr
kurzfristiges Interesse nach zusätzlichen Mitteln von den Eurostaaten erfüllt wurde.
Die im Gegenzug versprochenen langfristigen Strukturreformen wurden in einigen
Empfängerstaaten umgesetzt, wodurch die wirtschaftliche Erholung in diesen
Ländern vorangetrieben wurde. Andere Regierungen setzten die eingegangenen
Verpflichtungen allerdings nicht im notwendigen Umfang um, da diese mit schmerzhaften
Einschnitten für relevante Wählergruppen verbunden gewesen wären.
Perspektivunterschiede innerhalb Deutschlands
Auch innerhalb Deutschlands kommt es politisch immer wieder
zu Konflikten zwischen Regeln zur Verfolgung langfristiger Ziele und
kurzfristigen Interessen. Obwohl beispielsweise zur Beschränkung der
Staatsverschuldung eine Schuldenbremse vereinbart wurde, schränken einige Bundesländer
ihre Ausgaben nicht in einem zu deren Einhaltung erforderlichen Maße ein. Auch
muss erwähnt werden, dass Deutschland gemeinsam mit Frankreich 2002 und 2003
gegen die Maastricht-Regeln verstoßen und so einen Präzedenzfall geschaffen
hat.
Schritte zur Wiederbelebung einer regelgebundenen Wirtschaftspolitik
Ein Regelbruch wird häufig pragmatisch damit begründet, dass
die Anwendung der bestehenden Regel im vorliegenden Einzelfall einen größeren
Schaden erzeugen würde als die Nichtanwendung. Dies mag in Einzelfällen im
Hinblick auf sich ändernde politische Ziele nachvollziehbar sein. Allerdings
entfaltet eine solche Politik eine weit über den Einzelfall hinausgehende Wirkung.
Die durch die Verabschiedung einer Regel erhoffte Verhaltensanpassung der
Akteure wird weniger wahrscheinlich, wenn die Einhaltung von Regeln stets Gegenstand
von politischen Verhandlungen ist.
Frankreich etwa verstößt seit 2008 durchgehend gegen die
Neuverschuldungsgrenze. Sanktionen konnte Frankreich aufgrund seines
politischen Einflusses allerdings immer wieder verhindern. Von einer
Einzelfallentscheidung zur Nichtanwendung einer Regel gehen also stets Anreize
für alle Akteure aus, künftig auf Anstrengungen zur Einhaltung der Regel zu
verzichten.
Wenn zwischen Akteuren – unabhängig von bestehenden Regeln –
stets um jeden Preis ein Kompromiss geschlossen wird, kann es für die Akteure
rational sein, die Verhandlungen mit extremen Positionen zu beginnen. Genau
diese Strategie verfolgte offenbar die neugewählte griechische Regierung, die
die ursprünglich von den Vorgängerregierungen als Gegenleistung für Hilfszahlungen
verbindlich zugesagten Strukturreformen vollständig ablehnte und von dieser
Extremposition erst nach Zugeständnissen im Rahmen von Verhandlungen abwich.
Um das Prinzip der Regelbindung wiederzubeleben, muss daher
zunächst konstatiert werden, wie beträchtlich der durch die fortwährende
Nichteinhaltung von Regeln ausgelöste Glaubwürdigkeitsverlust des Rechts ist.
Für die Zukunft muss die Annahme, bereits der Beschluss einer Regel werde für
eine hinreichende Verhaltensänderung der Akteure sorgen, grundsätzlich
hinterfragt werden. Stattdessen muss beim Beschluss von Regeln der Frage, wie
mit einem Regelbruch umzugehen ist, mindestens genauso große Bedeutung
zugemessen werden, wie der Ausgestaltung der Regel selbst. Zur Wiederherstellung
der Glaubwürdigkeit von Regeln darf die Sanktionierung von Regelverstößen nicht
länger verhandelbar sein.
Eine regelgebundene Wirtschaftspolitik erfordert somit die
Bereitschaft, die für den Fall der Nichteinhaltung vereinbarten Konsequenzen
auch durchzusetzen. Sind Akteure zum Beschluss einer Regel, aber nicht zur verbindlichen
Festlegung der Konsequenzen bei Nichteinhaltung bereit, bestehen erhebliche
Zweifel an deren Absicht, die Regel einzuhalten. Gerade bei Akteuren mit einem
prozesspolitischen Verständnis von Wirtschaftspolitik erscheint es daher
fraglich, inwiefern die Zustimmung zu unverbindlichen Regeln, welche für diese eher
den Charakter einer losen Absichtserklärung haben, eine hinreichende
Gegenleistung für sofortige Zahlungen darstellt.
Die verbindliche Festlegung von Konsequenzen bei Nichteinhaltung
ist zudem nur dann glaubwürdig, wenn die vereinbarten Regeln konsistent sind.
Dies war in der europäischen Währungsunion nicht der Fall. Einerseits galt die
Nichtbeistandsklausel, welche besagt dass Staaten bei Überschuldung nicht
gerettet werden und Staatsanleihen somit einem Ausfallrisiko unterliegen. Anderseits
galten Staatsanleihen für Banken als risikolose Anlageklasse, für welche diese
kein Eigenkapital vorhalten mussten. Diese Inkonsistenz hat die Glaubwürdigkeit
der Nichtbeistandsklausel untergraben, da dessen Einhaltung massive Kosten im
Bankensektor erzeugt hätte.
Ausblick
Die regelgebundene Wirtschaftspolitik hat in der jüngsten Vergangenheit
einen massiven Glaubwürdigkeitsverlust erlitten. Eine Reaktivierung des
Prinzips der Regelbindung ist nur dann möglich, wenn Politiker entgegen dem
pragmatischen Zeitgeist bereit sind, sich selbst durch die Festlegung auf
Regeln für die Zukunft bestimmte Handlungsmöglichkeiten zu verbauen.
Vorschläge, wie z. B. automatische Sanktionen bei Überschreitung einer Neuverschuldungsgrenze,
könnten dazu beitragen, die Überprüfung der Regeleinhaltung den politischen Akteuren
zu entziehen und diese damit wirksamer auf die Verfolgung langfristiger Ziele
zu verpflichten.
Leonard
Münstermann ist Diplomvolkswirt und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Institut für Wirtschaftspolitik. Dort erschien auch dieser
ordnungspolitische Kommentar, den wir mit freundlicher Genehmigung
wiederveröffentlichen.
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