Wie schon vor
den Bundestagswahlen analysiert Open Europe Berlin die Wahlprogramme der
deutschen Parteien, die Aussicht haben, ins Parlament zu gelangen – diesmal im
Hinblick auf die Wahlen zum EU-Parlament (EP) Ende Mai diesen Jahres. Dabei
geben wir Informationen, keine Wahlempfehlungen. Besonders interessiert uns,
welche Grundüberzeugungen die Parteien vertreten, welche Lösungsvorschläge für
die Euro-/Staatsschuldenkrise unterbreitet werden, ob und wie die
Entscheidungsverfahren innerhalb der EU reformiert werden sollen und welche
Positionen sonst von den jeweiligen Parteien besonders betont werden.
An diesem
Wochenende hat die neue Partei „Alternative für Deutschland“ in Erfurt, nach
anfangs turbulentem Start (Querelen über Satzung und Posten), ein Wahlprogramm verabschiedet.
Sie finden es hier. Im Vergleich
zur Bundestagswahl (in der es eigentlich um viel mehr Themen geht) hat das Programm der AfD deutlich zugelegt: von vier Seiten auf 25. Nach
letzten Umfragen könnte auch der Wahlerfolg der AfD zulegen: von knapp unter fünf
Prozent (und damit ohne Sitz im Bundestag) auf über sechs Prozent (und damit auf
um die sechs Abgeordnete im EP).
Ideale
„Die Alternative für Deutschland (AfD) will eine Europäische Union (EU)
souveräner Staaten“ – so beginnt die Präambel des AfD Programms. Es kann nicht
verwundern, dass schon dieser Satz in Erfurt heftig debattiert wurde. Was heißt Souveränität (das alte national-konservativ-kollektivistische
Konzept der "Staatssouveränität" oder ein liberal-individualistisches Konzept der "Bürgersouveränität")?
Aber ein Parteitag ist kein staatsphilosophisches Proseminar. Und die AfD zeigte
in Erfurt auch kaum Anzeichen EU-feindlicher Deutschtümelei. Sie „bekennt
sich uneingeschränkt zu einer Europäischen Union, die der Aufklärung sowie dem
Streben der Völker nach Menschenrechten und Demokratie gerecht wird und die die
Wertegrundlagen des christlich-abendländischen Kulturkreises dauerhaft erhält“
(S.2). Neben Demokratie und Rechtsstaatlichkeit werden „soziale Marktwirtschaft“
und „Subsidiarität“ besonders oft betont, aber auch „Solidarität mit den
wirklich Bedürftigen“ (S.3).
Für die AfD sind dies aber nur in Teilen tatsächliche Errungenschaften der
EU, sondern vielmehr Desiderata, die die EU nicht (mehr) einlöst. Hauptursache
hierfür sei der „Einheits-Euro“, der die EU und ihre Grundprinzipien gefährde.
Euro-Rettung
Die Ablehnung der Euro-Rettungsaktionen ist bekanntlich die ursprüngliche Gründungsidee
der AfD. Was sie von allen im Bundestag vertretenen Parteien unterscheidet ist
genau das: die Forderung nach einem „geplanten und geordneten Ausstieg aus dem
Einheitseuro“ (S.5). Im Vergleich zum Bundestagswahlprogramm wird nun die Forderung „Auflösung, zumindest aber … vollständige
währungspolitische Neuordnung des Euro-Währungsgebiets“ etwas konkreter, in
Form einer Prioritätenliste oder möglichen Abfolge:
- „Als erster Schritt muss … jedem Land das Recht eingeräumt werden, die Eurozone zu verlassen, ohne aus der EU auszuscheiden. Davon sollten die Länder Gebrauch machen, die die Bedingungen der Währungsunion nicht erfüllen können oder wollen“.
- “Andernfalls sollten die stabilitätsorientierten Euroländer unter sich ein kleineres, am Maastricht-Vertrag angelehntes Währungssystem bilden. Dabei kann man sich an dem vor 1998 bestehenden Europäischen Währungssystem (EWS) orientieren“.
- „Wenn keine dieser beiden Lösungen erreicht werden kann, muss Deutschland den Austritt aus der Euro-Währungsunion anstreben. Auch dann würde die AfD eine Währungszusammenarbeit wie im früheren EWS anstreben“.
- „Analog zum Vorgehen bei der Einführung des Euro können beim Austritt übergangsweise Parallelwährungen getrennt für den baren und den unbaren Zahlungsverkehr eingeführt werden“.
Konkret heißt das wohl: am liebsten wäre es der AfD, wenn Griechenland (und
andere auch nicht genannte Länder) freiwillig und im eigenen Interesse aus dem
Euro austreten. Wenn das nicht passiert, dann solle sich ein „Nordeuro“
abspalten und als „ultima ratio“ käme dann erst die Rückkehr zur D-Mark in
Betracht.
Ob und wie das jeweils genau gehen soll und vor allem: welche ökonomischen
und politischen Konsequenzen eine Auflösung der Euro-Zone hätte, kann kein
Wahlprogramm vorgeben. Selbst deutsche Ökonomen sind sich da nicht
einig, wie unser Gelehrtenstreit auf dem Open Europe Berlin Blog zeigt:
- Das OEB Interview mit Bernd Lucke hier.
- Sehr kritisch dazu ein Kommentar von Holger Schmieding hier.
- Auch sehr kritisch zu den AfD-Positionen Karl-Heinz Paqué im OEB Interview hier.
- Im OEB Interview erläutert wiederum Dirk Meyer alternative Euro-Ausstiegsszenarien und deren Alternativkosten hier.
Ähnlich streitbar sind (auch unter Ökonomen) die weiteren Positionen der
AfD zur Euro-Rettungspolitik. Sie will (S. 6):
- den ESM auflösen (und damit Art. 136a AEUV aufheben);
- das OMT Programm sofort beenden;
- Deutschland in der EZB bei „grundlegenden Entscheidungen“ ein Vetorecht einräumen (wenn Deutschland ein Stimmgewicht entsprechend dem Kapitalschlüssel von 27% erhielte und nur mit qualifizierter Mehrheit von 75% entschieden werden könnte, wäre das die Folge);
- TARGET-2 Salden zurückführen und danach jährlich ausgleichen;
- staatliche Insolvenzverfahren einführen;
- Die europäische Bankenunion wird abgelehnt; stattdessen fordert die AfD die „Re-Nationalisierung der Stabilisierungsbemühungen des Bankensektors“. Gleichzeitig finden sich aber auch jede Menge Vorschläge zur Bankenregulierung (S.7): Aufspaltung der Großbanken, Trennbankensystem, „scharfe Bankenaufsicht und -regulierung“, „Eigenkapitalquote von mindestens 25%“ unter Einbeziehung des Risikos von Staatsanleihen u.v.m. Wie das im Rahmen eines „re-nationalisierten“ Systems gelingen soll, ohne Regulierungsarbitrage Tür und Tor zu öffnen, ist zumindest mir noch unklar.
EU-Governance
Hier macht die AfD das Subsidiaritätsprinzip stark – auch im Sinne einer Repatriierung
von Kompetenzen (S.8). Vor allem drei institutionelle Reformen werden in diesem
Zusammenhang vorgeschlagen:
- Ein „Vetorecht der nationalen Parlamente gegen Entwürfe von Gesetzgebungsakten der EU-Organen“. Hier geht die AfD weiter als andere gemäßigt EU-kritische Parteien in Europa, die vor allem eine verschärfte Subsidiaritätsrüge einer Gruppe nationaler Parlamente („rote Karte“) fordern. Denn schon ein jedes einzelnes nationales Parlament soll verhindern können, dass (neue) EU-Gesetze oder Maßnahmen im eigenen Land gelten. Das „ordentliche Gesetzgebungsverfahren der EU“ (Mehrheiten im Rat und EU-Parlament) wäre damit effektiv ausgehebelt.
- Schließlich wird auch mehr direkte Demokratie gefordert. Ein „Bürger-Veto“ nach „Schweizer Vorbild“ soll EU-Gesetzgebung (egal welcher Art?) in dem jeweiligen Mitgliedsstaat blockieren können.
- Prozedural eher kompatibel mit gemeinschaftsrechtlicher Praxis wäre die AfD-Forderung nach einem „Subsidiaritäts-Gerichthof“ bestehend aus obersten Richtern der Mitgliedsstaaten, die von nationalen Parlamenten bestellt werden. Hier könnten Bürger und Institutionen gegen Verletzungen des Subsidiaritätsprinzips klagen.
Was das Spannungsverhältnis zwischen Erweiterung und Vertiefung betrifft,
spricht sich die AfD für einen Vorrang der Konsolidierung vor der Erweiterung aus;
konkret sollen die Aufnahmeverhandlungen mit der Türkei beendet werden. Als
Modell dient ein Europa als „flexibles Netzwerk der verschiedenen Geschwindigkeiten,
an dem jeder europäische Staat gemäß seinen Bedürfnissen und Möglichkeiten
teilnehmen kann“ (S. 11).
Sonstiges
Als neues Sammelbecken für viele einst enttäuschte und jetzt wieder engagierte
Bürger hat die AfD jede Menge Meinungen zu bewältigen und zu integrieren.
Folglich finden sich auch Themen, die in einem Wahlprogramm zum EU-Parlament
auch verzichtbar gewesen wären: Beibehaltung der Winterzeit (S. 11); die
Abschaffung des deutschen Erneuerbare Energien Gesetz EEG (S. 20); Ablehnung
von Straßengebühren in Europa (S. 22); „Lärmbelastung des Luftverkehrs als
Ärgernis“ (S. 22) oder „einheitliche Steckdosen in allen Mitgliedsländern der
EU“ (S. 25).
Zur relevanteren EU-Wirtschaftspolitik nimmt die AfD eine etwas mehrdeutige
Position ein. Der EU-Binnenmarkt wird als Kern der europäischen Integration begrüßt;
auch wird abstrakt angedeutet, dass „institutionelle Zugangsbarrieren“ zu
Dienstleistungsmärkten abgebaut werden sollen (S. 12); gleichzeitig sollen aber
Barrieren (etwa unter dem Label Verbraucherschutz
oder Meisterbrief) „im Ermessen der Mitgliedsstaaten verbleiben bzw.
zurückverlagert werden“.
Die Spannung zwischen Freihandel und „nationalem Ermessen“ zeigt sich noch
deutlicher in Punkt IV.2 „Kein Freihandelsabkommen zu Lasten Europas“. Wohl sehr
zum Verdruss der liberalen Ökonomen in der AfD hat sich der Parteitag letztlich gegen das laufende Freihandelsabkommen mit den USA (TTIP) ausgesprochen:
„Da die Verhandlungen intransparent und hinter verschlossenen Türen geführt werden, muss befürchtet werden, dass der Schutz der europäischen Qualitäts-, Gesundheits- und Sicherheitsstandards nicht gewährleistet ist. Die Geheimhaltung widerspricht zudem unserem Verständnis einer mündigen Demokratie. Unter diesen Umständen lehnt die AfD eine Beschlussfassung über das Freihandelsabkommen mit den USA ab“.
Mit ihren Prinzipien einer "mündigen Demokratie" und der
Forderung nach "Transparenz" (die EU geht da bei TTIP übrigens schon
weiter als in vorherigen, am Ende für alle segensreichen Verhandlungen) liegt die
AfD zwar grundsätzlich immer richtig. Hier lehnt die Partei aber lange vor
Abschluss eines Abkommens (über das am Ende dann auch demokratisch abgestimmt
werden wird) schon jetzt ein Projekt ab, das volkswirtschaftlich und
geopolitisch auf beiden Seiten des Atlantiks immens wertvoll sein kann.
In der Sozial- und Einwanderungspolitik herrscht eine ähnliche Spannung.
Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit wird als „große
Errungenschaft der europäischen Integration“ begrüßt (S.13). Arbeits- und
Sozialpolitik gehörten aber zu den „nationalen Aufgaben der Mitgliedsstaaten“.
National-populistische Töne finden sich hierbei nicht wirklich – anders als bei
vielen anderen EU-skeptischen Parteien, die im Mai antreten. Zwar wird auch von
der AfD eine „Einwanderung in deutsche Sozialsysteme“ abgelehnt (S.15), was
das aber für Einwanderer als EU-Staaten heißt, wird nicht klar, weil hier nur
generell von „Zuwanderern“ die Rede ist. Für Asylbewerber wiederum spricht man
sich für Erleichterungen aus, auch sollen sie in Deutschland ein „Recht auf
Arbeit“ haben (S.16), was wohl heißt, dass das Verbot, zu arbeiten aufgehoben
werden soll.
Die AfD äußert sich zudem zu Bildungspolitik, Forschung und Entwicklung,
Gleichstellungspolitik, Gesundheitspolitik, Energie- und Umweltpolitik,
Agrarpolitik, Infrastruktur- und Datenschutz mit Positionen, die oft einen
gesunden Menschenverstand ansprechen und sich insgesamt einem ideologischen
rechts- links- Schema entziehen.
Ausblick
Die ersten Parteitage und programmatischen Gehversuche der AfD erinnern ein
wenig an die Anfangsjahre der anderen Alternativen: der Grünen. Als etwas
chaotisches Sammelbecken der vom politischen „mainstream“ Enttäuschten, die
zunächst vor allem ein Thema zum Engagement bewegt. In der AfD haben sich bisher
vor allem klassisch-liberale sowie wert-, aber auch strukturkonservative Mitglieder
gegen die Euro-Rettungspolitik versammelt. Aber „für plumpen Rechtspopulismus
gab es keine Anzeichen“, berichtete selbst die Süddeutsche Zeitung vom
Parteitag
Die Ausweitung des Parteiprogramms über rein „Euro-skeptische“ Positionen
hinaus war sicher geboten; zumal die Bürger in Deutschland inzwischen von „Euro-Krise“
wenig fühlen und wohl auch erst einmal nichts mehr hören wollen. Mit den Themen
Überzentralisierung und Demokratiedefizit liegt die AfD dagegen wahlstrategisch
richtig, wie auch unsere Umfrage vor einigen Wochen gezeigt hat .
Bei den Themen Freihandel und Zuwanderung freilich werden sich Liberale und
Konservative in der AfD wohl weiter kaum einig werden können; und wenn im Zuge
der anstehenden Landtagswahlen nicht ernsthaft Target-2 Salden, Parallelwährungen
und Auflösung des europäischen Währungsgebiets an den lokalen Wahlständen
debattiert werden, sondern Bildungs-, Umwelt- oder Familienpolitik, könnten die
Unterschiede zwischen den (sich zumal als jeweils „alternativ“-radikalen
Varianten) liberaler oder konservativer Weltanschauung nochmals deutlicher zeigen.
[Fußnote für Feinschmecker: Grundsätzlich immer noch lesenswert zum
Unterschied zwischen „liberal“ und „konservativ“ F.A. von Hayek]
Auch wenn die AfD im EU-Parlament wenig wird ändern können – im Gegenteil
dürften die rund 20-30 Prozent EU-skeptischer Parteien von rechts und links nur
dazu führen, dass das EP dauerhaft von einer „großen Koalition“ der beiden
großen Mitte-rechts und Mitte-links Fraktionen bestimmt sein wird – sie könnte indirekt
einiges bewegen.
Am Ende des Wahlprogramms deutet die AfD diese indirekte Wirkung (die auch
die Grünen hatten) selbst an: „Die AfD wird der Leisetreterei und
Bagatellisierungstaktik der Altparteien keine Chance lassen. Die AfD wird
Europa zum Guten verändern, weil sie die Altparteien verändern wird“. Ob „zum
Guten“ oder nicht: zumindest ist nicht auszuschließen, dass ein Erfolg der AfD
bei den EU-Wahlen etwas bei den „Altparteien“ links wie rechts der Mitte bewegen
könnte.
Was genau das sein wird, bleibt abzuwarten. Vielleicht wenigstens eine
intensivere Debatte über die Zukunft Europas. Deshalb wünschte sich schon letztes Jahr
Jürgen Habermas einen Erfolg der AfD (deren Positionen er ganz und gar nicht
schätzt).
Bisher erschien unsere Analyse zum Wahlprogramm der Partei die Linke hier.
Die weiteren Parteien folgen.
Die weiteren Parteien folgen.