1995: In Frankreich gibt es
Massenproteste gegen die Austeritätspolitik, für die Deutschland verantwortlich
gemacht wird. Die „Maastricht-Kriterien“ werden als Diktat eines neuen „Hegemon“
verstanden. Und Lord Dahrendorf gibt ein Interview für den Spiegel. Dort stellt
er fest: „Das Projekt Währungsunion erzieht die Länder zu deutschem Verhalten,
aber nicht alle Länder wollen sich so verhalten wie Deutschland“. Lesen wir
weiter (das ganze Interview gibt es hier):
SPIEGEL: Also ist Deutschland
doch versucht, eine Art wohlwollende Hegemonie auszuüben?
Dahrendorf: Das ist ein sehr
guter Ausdruck. Natürlich ist es ein Fortschritt, mit der Bundesbank statt mit
dem wilhelminischen Generalstab zu tun zu haben.
SPIEGEL: Was wird denn nun aus
Europa, falls die Währungsunion scheitern sollte? Wäre das ein Drama, weil die EU
nackt und blamiert da stünde?
Dahrendorf: Ich sage Ihnen: Wenn
sie platzt, wenn also ein Schlüsselland – Frankreich oder Deutschland – nicht mitmacht,
wird es in Europa eine große Erleichterung geben. Das wird ganz ähnlich sein
wie 1954, als im Grunde auch niemand die Europäische Verteidigungsgemeinschaft
wollte und alle an dem Tag aufatmeten, an dem sie in der französischen
Nationalversammlung durchfiel.
SPIEGEL: Trotzdem gäbe es viel
öffentliches Wehklagen. Alles reine Heuchelei?
Dahrendorf: Vielleicht. Viel
wahrscheinlicher ist aber, dass die Währungsunion eben nicht platzt, sondern nur
immer wieder verschoben wird. Durch die Vertagung bleibt leider die Zielsetzung
unverändert – und damit die Gefährdung dessen, was wir in Europa bisher
geschaffen haben.
SPIEGEL: Die Währungsunion zu
verschieben liefe doch praktisch darauf hinaus, sie einen langsamen Tod sterben
zu lassen.
Dahrendorf: Ja, aber die Konzentration
auf das falsche Ziel bliebe noch für längere Zeit erhalten. Die Währungsunion ist
ein großer Irrtum, ein abenteuerliches, waghalsiges und verfehltes Ziel, das
Europa nicht eint, sondern spaltet.
SPIEGEL: Der Grundgedanke ist
aber doch gerade Konvergenz.
Dahrendorf: Das geht nicht, weil
die Wirtschaftskulturen zu unterschiedlich sind. Deshalb wird es „Ins“ und
„Outs“ geben, weil unter keinen Umständen, wie man es auch anpackt, alle 15
jetzigen EU-Mitglieder, geschweige denn demnächst 18 oder über 20 an der Währungsunion
teilnehmen werden. Das schafft Machtunterschiede mit Auswirkungen weit über die
Wirtschafts- und Finanzpolitik hinaus. Diejenigen, die drin sind, werden der
Natur der Sache nach viel enger zusammenarbeiten – und auch entscheiden, wer zu
ihnen stoßen darf.
SPIEGEL: Ist denn die Vollendung
des gemeinsamen Binnenmarktes ohne Währungsunion überhaupt denkbar?
Dahrendorf: Unter den
Wirtschaftlern gibt es darüber keine Einigkeit. Manche halten es für viel
gefährlicher, wenn einige Staaten eine Währungsunion bilden und andere die Abwertungsmöglichkeit
für sich behalten und sich damit Exportvorteile verschaffen.
SPIEGEL: Halten Sie den
bisherigen Ansatz für überholt, ökonomische Sachzwänge zu schaffen, um Europa
politisch voranzubringen?
Dahrendorf: Diese Vorgehensweise
war immer eine große Gefahr. Was Sie in mir sehen, ist ein Europäer, der nicht
an Jean Monnet glaubt und schon gar nicht an Walter Hallstein, das heißt einen
Europäer, der immer gesagt hat: Politische Fragen müssen politisch entschieden
werden. Der Glaube, dass die EU wie ein Fahrrad sei, das entweder rollt oder
umfällt, ist haarsträubender Unsinn. Kein Mensch würde von der Nato sagen, sie
gleiche einem Fahrrad, auf dem man ständig in die Pedale treten müsse ...
SPIEGEL: … das hieße ja wohl,
ständig neue Einsätze zu ersinnen.
Dahrendorf: Es bedeutet, dass man
nicht auf die Erfordernisse der realen Situation reagiert, sondern sein eigenes
Tempo und seine eigene Methode der Fortbewegung erfindet. Das tun nur
künstliche Organisationen.
SPIEGEL: Dennoch: Die Entmutigung
wäre nach einem Scheitern der Währungsunion so groß, daß die Bemühungen um mehr
Integration ganz zerfallen könnten.
Dahrendorf: Das ist es ja: Wir
haben mit dem Vertrag von Maastricht alle Eier in einen Korb gepackt. Das muß
sich jetzt ändern. Ich bin manchmal verlockt, eine private Gruppe zu bilden,
die sich über Europa ohne Währungsunion Gedanken macht.
SPIEGEL: Was ist denn die
wichtigste Herausforderung, vor der Europa steht, wenn nicht die Währungsunion?
Dahrendorf: Die intelligente
Reform des Sozialstaats. Das ist nun ein wirklich überlebenswichtiges Thema,
das bis an die Wurzeln der europäischen Kultur und unserer Lebenswelt reicht.
Wie sich die Dinge gleichen … (s. hierzu auch das, was Lord Dahrendorf 1979 zu "Europa à la carte" sagte - und recht stark nach David Cameron klingt):
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